„Wir verpassen niemals die Chance, eine Chance zu verpassen“ lautet ein ukrainisches Sprichwort, das sich in der Ukraine in den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges etabliert hat. Es bringt die Frustration über den Mangel an grundlegenden Reformen nach den Revolutionen 2004 (Orangene Revolution) und 2013 (Euromaidan) zum Ausdruck. Beide Revolutionen brachten natürlich einige Änderungen mit sich, aber alle großen Kämpfe wecken hohe Erwartungen, und wenn dann nur wenig passiert, ist die Enttäuschung umso größer.

Was müssen wir also tun, um dieses Mal die Chance auf einen Wandel nicht zu verpassen? 

In meinen Augen lieferte unsere Nobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk eine glaubwürdige Antwort auf diese Frage. Olexandra ist Menschenrechtsanwältin und eine führende Persönlichkeit der Zivilgesellschaft. So war es nur selbstverständlich, dass sie in ihrer ausdrucksstarken Dankesrede anlässlich der Preisverleihung den Schwerpunkt auf Menschenrechte legte. 

Das mag nicht viel zu tun haben mit den Grundbedürfnissen der Menschen, wie sie der russische Komiker Jewgeni Petrossjan in seinem Neujahrsgruß beschreibt: „Wenn du gegessen und dich gewaschen hast, dein Haus warm ist, bedeutet das, dass du als Russe geboren wurdest, und du hast Glück mit deinem Land“. Die jüngsten Entwicklungen haben gezeigt, wie verheerend es sein kann, angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Russland wegzuschauen. Aber genau dies haben die europäischen Staats- und Regierungschefs getan, damit ihre Landsleute nicht frieren müssen und um die Wirtschaft zu schützen.

„Ein Staat, der Journalisten tötet, Aktivisten einsperrt und friedliche Demonstrationen auflöst, stellt eine Bedrohung nicht nur für die eigenen Bürgerinnen und Bürger dar“, so Matwijtschuk. „Bei der politischen Entscheidungsfindung müssen die Menschenrechte ebenso wichtig sein wie der wirtschaftliche Nutzen oder die Sicherheit. Diesen Ansatz sollten man auch bei der Außenpolitik verfolgen.

Es ist an der Zeit, eine neue globale Ordnung aufzubauen, bei der die Menschenrechte im Mittelpunkt stehen“, betont Matwijtschuk. Dabei sind nicht nur Politikerinnen und Politiker gefragt. Auch die Zivilgesellschaft sollte an diesem Prozess möglichst aktiv mitwirken. „Wir brauchen eine neue humanistische Bewegung, die sinnstiftend und aufklärerisch wirkt, Unterstützungsstrukturen an der Basis aufbaut und die Menschen dazu ermutigt, für ihre Rechte und Freiheiten einzustehen“, so Matwijtschuk weiter.
 
Es ist an der Zeit, um in der EU und in der Ukraine eine Reihe von Reformen durchzuführen, und es ist auch der richtige Zeitpunkt dafür. Es gilt, auf umweltfreundlichere Energieressourcen umzustellen, ohne auf die Wiederherstellung der Gas- und Erdölversorgung durch Russland zu bauen. Es gilt auch, nach Wegen zu suchen, um die Desinformation und die russische Propaganda zu stoppen und mit Hilfe der EU endlich das Antikorruptionssystem in der Ukraine zu reformieren. 

Mit Anbrechen des zweiten Kriegsjahres müssen wir auf all diese Veränderungen hinarbeiten. Wie sich gezeigt hat, stellt sich der Wandel nach einem Krieg oder einer Revolution nicht von selbst ein. Und die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen das mittlerweile nur allzu gut. Dieses Mal haben aber nicht nur meine Landsleute, sondern auch die Europäerinnen und Europäer hohe Erwartungen. Nach dem Sieg werden wir alle gemeinsam für den Aufbau einer neuen, nachhaltigen und friedlichen Welt kämpfen müssen. Weder die Menschen in der Ukraine noch die in der EU können es sich leisten, diese Gelegenheit ein weiteres Mal ungenutzt verstreichen zu lassen. 

Olena Abramowytsch, Brüssel-Korrespondentin des ukrainischen Fernsehsenders Inter