Europäischer Binnenmarkt braucht neue geopolitische Ausrichtung

Auf der März-Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) machte der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta deutlich, dass es beim europäischen Binnenmarkt in erster Linie um die Menschen gehe und dass der Schwerpunkt 30 Jahre nach seiner Entstehung auf die strategische Autonomie Europas und auf Themen wie Verteidigung, Telekommunikation, Energie und Finanzen gelegt werden müsse.

Ein strategisches Umdenken in Bezug auf den Binnenmarkt sei das Gebot der Stunde: In den letzten 30 Jahren habe sich die Welt geändert und der Binnenmarkt müsse an die neue internationale Landschaft angepasst werden, so der ehemalige italienische Regierungschef Enrico Letta während der Debatte auf der Plenartagung des EWSA am 20. März 2024.

Enrico Letta, der jetzt Präsident des Jacques-Delors-Instituts ist, erläuterte zudem den Kerngedanken seines auf hoher Ebene erstellten Berichts über die Zukunft des Binnenmarkts und betonte, dass der künftige Binnenmarkt einen geopolitischen Ansatz verfolgen und sich auf die strategische Autonomie und die Säulen Europas wie Verteidigung, Telekommunikation, Energie und Finanzen konzentrieren müsse.

Die jetzige geopolitische Landschaft unterscheidet sich grundlegend von der vor 30 Jahren. Wir müssen nun überlegen, welche Folgen die neuen internationalen Bedingungen für den Binnenmarkt und seine Zukunft haben. Wir brauchen einen neuen Ansatz, der auch Themen wie Verteidigung und Erweiterung umfasst, erklärte er.

EWSA-Präsident Oliver Röpke betonte, dass der Erfolg des Binnenmarkts nicht nur in wirtschaftlichen Kennzahlen gemessen werden dürfe, sondern auch die Hoffnungen und das Wohlergehen der europäischen Bürger widerspiegeln müsse: Wir im EWSA sind der Ansicht, dass es beim Binnenmarkt im Grunde um die Menschen geht und dass das Recht auf Freizügigkeit auch das Recht auf Aufenthalt bedeutet.

Enrico Letta wies darauf hin, dass es beim Binnenmarkt um Menschen gehe, dass sie aber auch in seinem Mittelpunkt stehen. Die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit müsse mit Sozialschutz einhergehen. Die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht seien Teil desselben Freiheitskonzepts: Die Abwanderung hochqualifizierter Kräfte hat in einigen Ländern verheerende Auswirkungen. Wir müssen die Niederlassungsfreiheit, aber auch die Freiheit zur Rückkehr sicherstellen. Heute gilt die Freiheit nur in eine Richtung, was die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt und ein großes Problem in Europa verursacht.

In Bezug auf die Notwendigkeit, den künftigen Binnenmarkt zu schützen und auszubauen, fügte Oliver Röpke hinzu: Jeder langfristige Plan für den Binnenmarkt sollte sowohl auf die soziale als auch auf die wirtschaftliche Konvergenz abzielen und Ungleichheiten und soziale Unterschiede beseitigen, die die europäische Integration bedrohen. Dies erfordert gemeinsame Anstrengungen unter Einbeziehung der Regionen und Kommunen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft, um ein sozialverträgliches Europa aufzubauen, in dem niemand zurückgelassen wird.

Im Namen der Gruppe Organisationen der Zivilgesellschaft betonte der Vorsitzende der Gruppe „Europäisches Semester“ des EWSA Luca Jahier, dass es beim Binnenmarkt nicht nur um Energie, Telekommunikation, künstliche Intelligenz, Kapitalmarktunion und Verteidigung gehe dürfe. Die EU brauche auch eine soziale Säule als Voraussetzung für ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihren Wohlstand.

Der Vorsitzende der Gruppe Arbeitgeber des EWSA, Stefano Mallia, wies darauf hin, dass die Zukunft des Binnenmarkts bereits schon morgen und nicht erst in ein paar Jahren beginnen müsse. Die EU müsse alle Unternehmen im Blick haben, sich aber verstärkt auch innovativen Unternehmen widmen, die Wachstum und Arbeitsplätze schaffen.

Schließlich betonte der stellvertretende Vorsitzende der Gruppe Arbeitnehmer des EWSA, Philip von Brockdorf, dass die Kapitalmarktunion für die Vollendung des Binnenmarkts von grundlegender Bedeutung sei, dass die EU aber bislang den Weg des geringsten Widerstands gegangen sei, ohne sich mit den tatsächlichen Problemen der nationalen Kapitalmärkte und der Tatsache auseinanderzusetzen, dass einige Länder zu sehr mit sich selbst befasst sind.

Hintergrund

Der auf hoher Ebene erstellte Bericht über die Zukunft des Binnenmarkts wurde vom Europäischen Rat am 30. Juni 2023 angefordert. Der ehemalige italienische Regierungschef, Enrico Letta, wurde damit beauftragt, die Standpunkte europäischer und nationaler Stellen sowie von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft einzuholen. Das Hauptziel bestand darin, konkrete und ehrgeizige Empfehlungen vorzulegen.

Der Bericht soll auf der Tagung des Europäischen Rates im April 2024 erörtert werden und als Grundlage für Maßnahmen der künftigen Ratsvorsitze, der nächsten Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten dienen.

Der Binnenmarkt, der vor mehr als 30 Jahren am 1. November 1993 ins Leben gerufen wurde, ist die wichtigste Errungenschaft der europäischen Integration: ein Gebiet ohne Binnengrenzen und sonstige regulatorische Hindernisse für den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – die sogenannten „vier Freiheiten“.

Obwohl der Binnenmarkt den Alltag der Menschen und Unternehmen in Europa erleichtert hat, sind diese sich seiner Vorteile nicht immer bewusst, da die Vorschriften manchmal nicht bekannt sind, nicht umgesetzt oder durch eine Reihe unterschiedlicher Hindernisse untergraben werden.

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The future European single market needs a new geopolitical focus