Europa braucht eine proaktive Langzeitpflegepolitik

Auf der zweiten „Going-local“-Veranstaltung des EWSA zu diesem Thema werden die schlimmen Arbeitsbedingungen der in deutschen Haushalten beschäftigten Pflegekräfte offengelegt.

Trotz der steigenden Zahl ausländischer Pflegekräfte, die in deutschen Haushalten tätig sind, ist diese Branche in Deutschland hochgradig fragmentiert und unreguliert: Unterbezahlten Pflegekräften werden grundlegende arbeitsrechtliche und Sozialschutzansprüche verweigert, und die Pflegebedürftigen haben keine Gewähr für die Qualität der Pflege, die sie erhalten. Dies wurde in einer Veranstaltung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) offengelegt.

Nach Aussage der Redner auf dem Treffen, das am Mittwoch in Berlin stattfand, kommen die meisten in Deutschland tätigen Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern, etwa aus Polen, der Slowakei oder Ungarn, und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in den deutschen Haushalten sind mitunter so schlecht, dass sie an Ausbeutung grenzen und an moderne Sklaverei erinnern.

„Die Initiativstellungnahme des EWSA ist im Verein mit einer Entschließung des Europäischen Parlaments zum diesem Thema ein wichtiger Schritt, um dafür zu sorgen, dass dieses Phänomen unter sozialen und wirtschaftlichen Aspekten endlich wahrgenommen wird“, erklärte Pietro Vittorio Barbieri, Vertreter der Gruppe Verschiedene Interessen (Gruppe III) des EWSA.

„Es ist höchste Zeit, faire Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus Osteuropa, die Tag und Nacht die deutschen Familien bei der Pflege unterstützen, zu fordern. Sie sollen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden. Ihre Arbeit muss anerkannt und Arbeitsrechte beachtet werden“, erklärte Sylwia Timm vom Projekt „Faire Mobilität“ des DGB.

„Die 24-Stunden- Pflege und -Betreuung ist Arbeitsausbeutung“, mahnte sie und wies darauf hin, dass die in diesem Rahmen geleistete Arbeit nicht von der Arbeitszeitrichtlinie und anderen einschlägigen Regelungen gedeckt ist. Oft müssen die Pflegekräfte länger als gesetzlich erlaubt arbeiten, ohne Pausen, Ruhezeiten oder freie Tage. Auch die Entlohnung ist nicht angemessen, und Überstunden oder Bereitschaften werden überhaupt nicht bezahlt.

Sozialversicherungsbeiträge werden entweder gar nicht oder nur in der geringstmöglichen Höhe entrichtet. Die Pflegekräfte haben keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung und leben oft unter erbärmlichen Umständen, etwa in ungeheizten Räumen, oder müssen im selben Raum wie die pflegebedürftigen Menschen, um die sie sich kümmern, schlafen.

Zwar fehlen Angaben über die genaue Zahl im Haushalt lebender Pflegekräfte in der EU und ihren Beitrag zu den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten, doch wird geschätzt, dass allein in Deutschland gegenwärtig etwa 300 000 Pflegekräfte aus Osteuropa tätig sind. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland liegt bei 2,86 Millionen.

Untersuchungen haben ergeben, dass in etwa jedem zehnten deutschen Haushalt mit einem Pflegebedürftigen eine Hilfskraft beschäftigt wird, die rund um die Uhr mit in der Wohnung lebt und arbeitet.

Das Treffen in Berlin war die zweite „Going-local“-Veranstaltung des EWSA und Teil des laufenden Konsultationsverfahrens zur Zukunft dieser rasch wachsenden Branche in Europa. Ein erstes Treffen fand im November in London statt, und weitere sind in Italien, Schweden und Polen geplant, also einigen der Länder, aus denen die im Haushalt lebenden Pflegekräfte kommen und in denen sie tätig sind.

Die Informationsreisen in die einzelnen Länder sind eine Folgemaßnahme zur EWSA-Initiativstellungnahme über die Rechte von im Haushalt lebenden Pflegekräften, die im September 2016 verabschiedet wurde und die das erste politische Dokument auf EU-Ebene zu diesem Thema war, das von den politisch Verantwortlichen in der EU und den Mitgliedstaaten lange Zeit nicht wahrgenommen wurde.

Auf den Treffen sollte die prekäre Lage dieser Pflegekräfte auf den europäischen Arbeitsmärkten ebenso beleuchtet werden wie die unsichere Situation der Pflegebedürftigen, die die Pflegekräfte oft über informelle Netzwerke oder das Internet einstellen.

„Wichtig ist, dass die im Haushalt von Fachkräften erfolgende Pflege professioneller gestaltet und reguliert wird“, erklärte der Berichterstatter der EWSA-Stellungnahme, Adam Rogalewski. Die Branche sei zudem sehr fragmentiert, und einige Agenturen vermittelten Pflegekräfte zu Bedingungen, die auf Sozialdumping hinausliefen.

Die Pflegekräfte, die vor allem aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten stammen, gehören zu den mobilsten Arbeitnehmern in der EU, so dass das Sozialdumping durch mangelnde Regulierung für diese Form der grenzüberschreitenden Beschäftigung noch verschärft wird.

Der EWSA, so Adam Rogalewski, schlägt unter anderem vor, im Haushalt lebende Pflegekräfte auf dem EU-Arbeitsmarkt dadurch anzuerkennen, dass eine gemeinsame Definition für diesen Beruf festgelegt wird und diese Pflegekräfte mit allen Rechten, die ihnen aufgrund der einschlägigen arbeitsrechtlichen Vorschriften der EU und der Mitgliedstaaten zustehen, in das System der Langzeitpflege integriert werden.

„Es existieren bereits klare Anforderungen an rechtlich legale Beschäftigungsverhältnisse für die Betreuung in häuslicher Gemeinschaft (sogenannte 24-Stunden-Betreuung). Woran es jedoch mangelt, ist Rechtssicherheit, und das befeuert nur den Schwarzmarkt, der in unserem Bereich mit 90 % unglaublich groß ist. Teilweise werden unpraktikable Scheinlösungen gefordert, die nicht umsetzbar sind. Das betrifft beispielsweise die Anstellung der Betreuungspersonen durch die Privathaushalte oder eine Ausweitung der stationären Versorgung – diese Lösungen sind für mich nicht realistisch“, sagte Juliane Bohl, von der Hausengel Holding AG, einem Mitglied des Verbandes für häusliche Betreuung und Pflege e.V. (VHBP).

„Zentral ist, dass die Betreuungskräfte transparente und vollständige Informationen über die Merkmale der Betreuungssituation vor Ort, die Konditionen, die Vergütung und den Umfang der sozialen Absicherung erhalten. Nur so ist eine faire Beschäftigung möglich“, sagte Prof. Dr. Arne Petermann, Vertreter der Linara Ltd und Vorstandsvorsitzender des VHBP.

Doch nur wenige Pflegekräfte sind direkt von der Pflegefamilie angestellt, viele werden über Agenturen vermittelt. Als Vertreterin einer Vermittlungsagentur des VHBP e.V., betonte Frau Juliane Bohl, vom Hausengel Pflege Allianz e.V., die Relevanz der Agenturen in ihrer Mittlerrolle bei der Unterstützung von Pflegeempfängern und Pflegepersonal. Dabei gab Sie zu, dass alle Vermittlungsagenturen zertifiziert sein sollten, um zu gewährleisten, dass sie für die Qualität ihrer erbrachten Vermittlungsdienstleistungen rechenschaftspflichtig sind. Es stelle sich nur noch die Frage, wie dies in Deutschland umgesetzt werden könnte.

Den Aussagen der Betroffenen zufolge übernehmen die Agenturen jedoch nur selten Verantwortung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte und bieten mitunter Scheinverträge an, die den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise entsprechen.

In einem bewegenden Auftritt berichtete Barbara Janikowska, eine polnische Pflegerin, die die letzten acht Jahre in deutschen Haushalten tätig war, dass ihre Verträge niemals der ursprünglichen Arbeitsbeschreibung der Agentur entsprochen hätten.

„Die alleinstehende alte Dame, für die ich als Haushaltshilfe arbeiten sollte, entpuppte sich als Gruppe von sieben Patienten, die Tag und Nacht versorgt werden mussten“, sagte Frau Janikowska. Sie fühle sich erniedrigt und betrogen von den Agenturen und den vielen deutschen Familien, für die sie arbeite.

Frau Janikowska zufolge diktieren die Agenturen die Bedingungen auf dem Markt für im Haushalt lebende Pflegekräfte. „Die potenziellen Arbeitnehmer sind buchstäblich Kanonenfutter. Sklaven im modernen Europa, die die Kassen der Agenturen füllen und ihre Gewinne steigern sollen. Um jeden Preis!!! Nie werde ich die Stellen vergessen, wo ich von 5 Uhr früh bis 22 Uhr abends arbeiten musste. Und nur eine Schüssel trockene Kartoffeln bekam“, so die Pflegerin.

HINTERGRUND

In der 2016 verabschiedeten Stellungnahme des EWSA wird in acht Empfehlungen für die Mitgliedstaaten und zwölf Empfehlungen für die EU-Gesetzgeber angeregt, die Gesamtkapazität der Pflegebranche zu steigern und hochwertige Arbeitsplätze und Qualitätsdienstleistungen zu schaffen. Dazu gehören Verfahren zur Anerkennung der Qualifikationen und Erfahrungen der im Haushalt lebenden Pflegekräfte, die Verbesserung der Entsendung und die Berücksichtigung ihrer Rechte im Europäischen Semester. Auch die strikte Anwendung der Opferschutzrichtlinie in den Fällen, in denen Pflegekräfte Opfer von Ausbeutung werden, sowie die Verbesserung der Garantien in der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber zum Schutz der Rechte von Arbeitnehmern ohne gültigen Aufenthaltstitel sollten weit oben auf der Tagesordnung stehen. Zudem müssen Daten über im Haushalt lebende Pflegekräfte erhoben und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen untersucht werden

Die Ergebnisse der Informationsreisen des EWSA in die einzelnen Länder sollen zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2018 in einem entsprechenden Bericht vorgelegt werden.

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