Auf Ersuchen des französischen EU-Ratsvorsitzes hat der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) in der auf seiner Plenartagung am 19. Januar 2022 verabschiedeten Stellungnahme Ernährungssicherheit und nachhaltige Lebensmittelsysteme wesentliche Stellhebel ermittelt, die zu einer nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Lebensmittelerzeugung in der EU sowie zur Verringerung der Abhängigkeit von Einfuhren und gleichzeitig zu einer besseren Selbstversorgung der EU mit Proteinen beitragen können.
Die COVID-19-Pandemie hat beispiellose Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft. Einerseits hat der Agrar- und Lebensmittelsektor in der Krise seine Belastbarkeit unter Beweis gestellt, andererseits wurde aber auch deutlich, dass beim Zugang zu Nahrungsmitteln erhebliche Ungleichheiten bestehen, was Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Nahrung und der Ernährungsdemokratie aufwirft. Es ist an der Zeit, die gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen. Gesunde, nachhaltige Lebensmittel müssen für alle Menschen in der EU zu erschwinglichen Preisen leicht zugänglich sein. Europa und die Welt müssen auf eine Weise für Ernährungssicherheit und Nahrung für alle sorgen, dass die wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Grundlagen für die Ernährungssicherheit künftiger Generationen nicht gefährdet werden.
Auch wenn der europäische Grüne Deal mit den Grundsätzen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und der Biodiversitätsstrategie die Gelegenheit bietet, den „Gesellschaftsvertrag für die Lebensmittelversorgung“ zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern zu bekräftigen, bleibt noch viel zu tun. Die Europäische Kommission schlägt zu wenige konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Agrar- und Lebensmittelsektors und der Einkommen der Landwirte und Arbeitnehmer sowie zur Förderung fairer Preise und zur Sensibilisierung für den Wert von Lebensmitteln vor
, betonte Mitberichterstatter Peter Schmidt.
Laut einem im August 2021 veröffentlichten Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS) der Kommission könnten diese Ziele zu einem Rückgang der EU-Produktion um 10 bis 15 %, einer Verringerung des Einkommens der Landwirte, einem Anstieg der Preise und einer parallelen Zunahme der Einfuhren führen. Im Sinne der Ernährungssicherheit und der Nachhaltigkeit brauchen wir daher einen integrierten Ansatz für die Lebensmittelpolitik der EU, wie ihn der EWSA fordert
, erklärte Schmidt weiter.
Der EWSA hat 2017 als erste EU-Institution für eine umfassende Lebensmittelpolitik in der EU plädiert, mit der das Ziel verfolgt wird, gesunde Ernährungsgewohnheiten aus nachhaltigen Lebensmittelsystemen zu fördern, die Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen zu verbinden und Versorgungsketten sicherzustellen, mit denen die Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger der EU gewahrt wird.
Damit eine umfassende Lebensmittelpolitik ihre Wirkung für die europäischen Verbraucher auch tatsächlich entfalten kann, ist es entscheidend, dass die in der EU nachhaltig erzeugten Lebensmittel preislich und qualitativ wettbewerbsfähig sind. Dies bedeutet, dass die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft in der Lage sein muss, den Verbrauchern Lebensmittel zu Preisen anzubieten, die zusätzliche Kosten für Kriterien wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, höhere Betriebsmittelkosten, Lebensmittel- und Ernährungssicherheit sowie Nährwert mit einschließen und zugleich eine angemessene Vergütung der Landwirte ermöglichen, damit dies auch weiterhin die bevorzugte Wahl für die große Mehrheit der Verbraucher bleibt.
Wie der Berichterstatter für die Stellungnahme, Arnold Puech d‘Alissac, herausstellte, sind die Förderung einer offenen strategischen Autonomie, die gegenseitige Anerkennung von Handelsstandards, die Förderung der Forschung, eine verstärkte Digitalisierung, die Entwicklung innovativer Technologien und innovativen Saatguts sowie ein leichterer Zugang der Landwirte zu Schulungen in diesen neuen Technologien wesentliche Ansatzpunkte zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Erzeuger.
Außerdem muss die EU ihre Selbstversorgung mit Proteinen verbessern
, führte er weiter aus. Wie in der Stellungnahme erläutert, kann die Einfuhr von Sojabohnen aus Drittländern der Entwaldung, Waldschädigung und Zerstörung natürlicher Ökosysteme in bestimmten Erzeugerländern Vorschub leisten. Eine bessere Selbstversorgung mit Proteinen ist daher unter allen Gesichtspunkten wünschenswert. Ein verstärkter unionsweiter Anbau von Hülsenfrüchten und Getreidesorten mit hohem Eiweißgehalt sowie von Ölsaaten und Presskuchen würde den Landwirten in der EU zugutekommen und sich positiv auf das Klima, die Artenvielfalt und die Umwelt auswirken.
Der EWSA will als nächsten Schritt einen Vorschlag für eine Strategie erarbeiten, mit der eine offene Autonomie im Bereich nachhaltig erzeugter Proteine und Pflanzenöle in der EU angestrebt wird. Dazu müsste das Potenzial von in der EU angebauten Pflanzen, der EU‑Aquakultur, der nachhaltigen extensiven Tierhaltung und weiterer Eiweißquellen wie Insekten, Algen und Urban-Food-Systemen geprüft werden.