Die Grundrechte dürfen nicht unter den Quarantäne-Maßnahmen leiden!

Durch die in Reaktion auf die COVID-19-Krise getroffenen Maßnahmen wurde eine Reihe von Grundrechten negativ beeinflusst. Aufgrund der unvermeidbaren Ausgangsbeschränkungen wurden nicht nur unser Recht auf Freizügigkeit und unsere grenzüberschreitende Reisefreiheit eingeschränkt, sondern auch die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie – durch Tracking-Systeme – das Recht auf Schutz der Privatsphäre.

Außerdem zeigt sich ganz klar, dass die Coronavirus-Pandemie die bestehenden Ungleichheiten, die besondere Schutzbedürftigkeit sowie Diskriminierungen verstärkt hat. Betroffen sind hiervon wirtschaftlich schwächere Bevölkerungsgruppen, Menschen mit Behinderungen und Kranke, kulturelle Minderheiten, Roma, Migranten und Frauen. Auch die bürgerlichen und politischen Rechte sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rechte wurden eingeschränkt.

Zweifellos steht die Europäische Union vor einer beispiellosen Herausforderung, bei deren Bewältigung jedoch unsere Demokratien und Grundrechte nicht gefährdet werden dürfen.

Unsere gemeinsame europäische Geschichte lehrt uns, dass wir eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte auf unserem Kontinent nicht hinnehmen dürfen. Wir sollten niemals vergessen, dass die Europäische Union als Bollwerk gegen Autoritarismus und Totalitarismus gegründet wurde – als demokratischer Zusammenschluss zur Förderung des Friedens, der gemeinsamen Werte und des Wohlergehens der Völker (Artikel 3 EUV) dieser Union.

Die nun ergriffenen befristeten Maßnahmen dürfen nicht dazu missbraucht werden, die im Laufe von Jahrzehnten erzielten Errungenschaften bei Freiheiten und Gleichheit rückgängig zu machen. Wir müssen diese Krise überwinden, ohne dass unsere Demokratien – und unsere Europäische Union – Schaden nehmen.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und seine Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit werden daher sehr wachsam sein, was Versuche angeht, dauerhafte Änderungen an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte vorzunehmen.

Wir haben Verständnis dafür, dass in der jetzigen beispiellosen Gesundheitskrise außerordentliche Maßnahmen ergriffen und Ausnahmen sowohl von den internationalen Menschenrechtsnormen als auch vom EU-Recht gemacht werden.

Die Krise darf jedoch keinesfalls zu unnötigen oder übermäßigen Einschränkungen von Rechten führen. Notstandsbefugnisse dürfen nur unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit unter direkter Kontrolle des Parlaments ausgeübt werden und sollten nicht über die Dauer der Krise hinaus verlängert werden. Kontrollmechanismen und die Gewaltenteilung müssen unbedingt beibehalten werden, um das Abrutschen von Notfallmaßnahmen zu einer Situation zu verhindern, in der rechtsstaatliche Prinzipien dauerhaft ausgesetzt werden.

Die Sorge ist durchaus berechtigt, dass sich einige Regierungen diese noch nie da gewesene, destabilisierende Situation zunutze machen könnten, um ihre Macht zu festigen und ihren Einfluss in populistischen, nationalistischen und antieuropäischen Bewegungen auszuweiten.

Wir können bereits beobachten, dass manche Regierungen versuchen, in dieser außergewöhnlichen Notlage über das notwendige Maß hinausgehende Maßnahmen einzuführen, die Verfassung zu ändern oder den sozialen Dialog zu unterbinden. Vor diesem Hintergrund hat der EWSA eine Erklärung abgegeben, in der er die Wahrung des sozialen Dialogs in Polen fordert. Ungarn wird vorgeworfen, den Ausnahmezustand ohne die dafür wesentlichen Garantien ausgerufen zu haben. Sowohl die Europäische Kommission als auch das Europäische Parlament haben ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass Ungarn Maßnahmen ergriffen hat, durch die wer zur Zeit eines Notstands „unwahre Tatsachen oder wahre Tatsachen in einer verzerrten Form verbreitet“, für diese Straftat mit einem Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft werden kann. Zwar lassen die internationalen Menschenrechtsnormen eine gewisse Einschränkung der Meinungsfreiheit zum Schutz der Gesundheit zu, das Recht der Bevölkerung auf Information darf jedoch nicht ausgesetzt werden. Es liegt auf der Hand, dass Regierungen, die auf Transparenz setzen, in dieser Krise besser aufgestellt sind als solche, die intransparent handeln.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Medienfreiheit sind in Krisenzeiten besonders wichtig, da unabhängige Medien eine Überwachungsfunktion ausüben, die dringend benötigt wird, um das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft zu erhalten und gegen Desinformation vorzugehen.

Wir müssen daher wachsam bleiben und dürfen im Fall von Machtmissbrauch und Schwächung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten nicht einfach wegschauen.

Wenn wir eine Schwächung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit einfach hinnehmen, untergräbt dies das Vertrauen in den Staat und in die Europäische Union. Vertrauen sowie Transparenz und Sachinformationen sind der Schlüssel dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger die ihnen auferlegte Selbstdisziplin einhalten.

Wir unterstützen daher uneingeschränkt die Initiative der Europäischen Kommission, die Notstandsmaßnahmen und ihre Anwendung zu überwachen und auch zu überprüfen, ob neue Gesetze mit unseren Verträgen in Einklang stehen. Darüber hinaus sollten wir entschieden auf Verstöße reagieren und dafür bei Bedarf alle uns zur Verfügung stehenden rechtlichen und finanziellen Instrumente einsetzen.

Der Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit des EWSA ist es ein wichtiges Anliegen, dass infolge der COVID-19-Pandemie nur notwendige, verhältnismäßige und befristete Maßnahmen ergriffen werden und die bereits bestehenden Probleme im Bereich der Wahrung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit in der EU nicht weiter verschärft werden, und wird die Lage daher weiter sehr aufmerksam beobachten. Gerade jetzt dürfen wir die Hände nicht einfach in den Schoß legen. Was wir nun brauchen, sind Solidarität und gegenseitige Unterstützung unserer gemeinsamen Bemühungen.

Der Zeitpunkt wird kommen, an dem wir zu einer neuen Normalität zurückkehren können. Wir werden all unsere Kreativität und unseren Mut brauchen, um unsere Gesellschaften und unsere Volkswirtschaften in einer gemeinsamen Anstrengung wiederaufzubauen und die richtigen Schlüsse aus den aktuellen Ereignissen zu ziehen, um für eine echte rEUnaissance – eine wirklich nachhaltige und gerechte Zukunft für Europa – zu sorgen. Dafür brauchen wir das Vertrauen der Bevölkerung in die europäischen und nationalen Institutionen, die die Rechtsstaatlichkeit und unsere Grundrechte schützen – ohne Europäerinnen und Europäer erster, zweiter oder dritter Klasse zu schaffen.

 

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