Reaktion der Europäischen Union auf die COVID-19-Pandemie und Notwendigkeit beispielloser Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten

Europa braucht dringend ein umfassendes Konjunkturprogramm

Die COVID-19-Pandemie ist in erster Linie ein öffentlicher Gesundheitsnotstand, aber auch eine ernste wirtschaftliche und soziale Bedrohung sowie eine potenzielle Gefahr für die demokratischen Institutionen.

Die EU muss sich angesichts dieser Krise – einer der schlimmsten ihrer Geschichte – von dem Grundsatz leiten lassen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bildet. Unter Verweis auf diesen Grundsatz bekräftigt der EWSA, dass es möglich ist, gemeinsame und solidarische Maßnahmen zu ergreifen und zu koordinieren, um den negativen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie entgegenzuwirken.

Er würdigt daher die rasche Reaktion der Europäischen Kommission und begrüßt sämtliche bislang angekündigte EU-Maßnahmen, erachtet diese aber nur als einen ersten greifbaren Ausdruck der Solidarität und der Verantwortung, die die EU gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, den Unternehmen und den Arbeitnehmern trägt, sowie als ersten entscheidenden Schritt in unserem gemeinsamen Kampf gegen die Pandemie.

Er ist jedoch der Auffassung, dass der Umfang der Maßnahmen und die Höhe der eingesetzten Mittel dem Ausmaß der Notlage entsprechen müssen, um wirksam zu sein. Wir erleben eine Ausnahmesituation mit unsäglichen Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Beschäftigten in der EU, die sich mit allem Grund um ihre Gesundheit, ihre Arbeitsplätze und die Zukunft ihrer Kinder sorgen. In der gegenwärtigen Situation brauchen wir politische Führungsstärke und ein geschlossenes und mutiges Handeln der europäischen Spitzenpolitik. Von unseren Bürgerinnen und Bürgern – und auch von der Nachwelt – werden wir daran gemessen werden, welche Maßnahmen wir jetzt, zu diesem ganz entscheidenden Zeitpunkt, ergreifen oder auch nicht ergreifen.

Der EWSA ist überzeugt, dass es den EU-Mitgliedstaaten, ihren Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen und Arbeitnehmern in diesen Zeiten großer Unsicherheit nur mit einem umfassenden europäischen Konjunkturprogramm gelingen kann, die Folgen der COVID-19-Pandemie bestmöglich zu bewältigen und den Wiederaufbau einer nachhaltigeren und widerstandsfähigeren europäischen Wirtschaft zu gewährleisten.

Nach Auffassung des EWSA sollten die Maßnahmen eines solches Konjunkturprogramms in erster Linie darauf abzielen, eine der Dimension und den Zielen unserer Wirtschafts- und Währungsunion angemessene fiskal- und geldpolitische Reaktion in der ganzen EU zu gewährleisten, d. h.:

  • Ausschöpfung des vollen Potenzials des ESM, um alle Mitgliedstaaten mithilfe der vorsorglichen ESM-Kreditlinien, die rasch und ohne benachteiligende Auflagen zur Verfügung gestellt werden sollten, aktiv bei der Wiederherstellung des Marktvertrauens zu unterstützen. Dabei ist auch die Preispolitik des ESM entsprechend anzupassen, um den derzeit extrem niedrigen Marktzinssätzen Rechnung zu tragen;
  • rasche Einführung des soeben von der Kommission vorgeschlagenen Europäischen Instruments für vorübergehende Unterstützung (European instrument for temporary support (SURE)), dem eine wichtige Rolle bei der Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie mit dem konkreten Ziel zukommen wird, Arbeitsplätze zu sichern und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen;
  • Einrichtung eines eigenen COVID-19-Fonds, der der EU als „Kriegskasse“ dienen würde, um für sämtliche EU-Mitgliedstaaten in zwei Schritten die größtmögliche finanzielle Unterstützung bereitzustellen – in einem ersten Schritt zur Bewältigung des gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Notstands und in einem zweiten Schritt zur raschen Konjunkturbelebung sofort nach Überwindung der Gesundheitskrise. Dieser Fonds muss allen Mitgliedstaaten gleichermaßen offen stehen und sollte dazu genutzt werden, um Unternehmenspleiten zu verhindern, Arbeitsplätze zu sichern und die europäischen Betriebe und Selbstständigen dabei zu unterstützen, wirtschaftlich möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen;
  • Stärkung der antizyklischen Rolle der Europäischen Investitionsbank durch Ausbau ihrer Kapazitäten sowie Bekräftigung der Rolle der EZB als Kreditgeber letzter Instanz, der in der Lage sein muss, durch weitere unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen unbegrenzte Liquidität bereitzustellen. Es gilt, den Liquiditätsbedarf der Realwirtschaft zu decken, die Integrität des Euro-Währungsgebiets zu wahren, das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern und die Rolle der EU als globalem Wirtschaftsakteur zu unterstützen.

Im Einklang mit dem Standpunkt des Europäischen Parlaments fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich dazu auf, den derzeitigen EU-Haushalt unverzüglich zu überarbeiten und der Dimension der COVID-19-Krise durch folgende Maßnahmen Rechnung zu tragen:

  • Mobilisierung der verfügbaren finanziellen Spielräume im Haushaltsplan 2020;
  • Neuausrichtung des EU-Überschusses 2019 statt Rückführung dieser Mittel an die Mitgliedstaaten. Diese Mittel sollten vollständig für die Gewährleistung der Finanzierung von vorzugsweise auf EU-Ebene durchzuführenden Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Krise genutzt werden;​​​​​​​
  • Änderung der bestehenden Rechtsvorschriften zur Kohäsionspolitik, damit die Mitgliedstaaten mehr Flexibilität bei der Übertragung von Mitteln zwischen den verschiedenen kohäsionspolitischen Programmen haben und diese rasch auf die Bereiche mit akutem Bedarf umschichten können.

Darüber hinaus ist klar, dass ein umfassend funktionsfähiger Binnenmarkt wichtiger denn je und seine Vollendung einer der Grundpfeiler für den Wirtschaftsaufschwung ist. Nun kommt es darauf an, dass die Mitgliedstaaten die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger schützen und gleichzeitig "grüne Korridore" errichten, um den freien Verkehr systemrelevanter Güter und die Versorgung überall in der EU zu gewährleisten.

Ferner ist der EWSA der Auffassung, dass sich in der jetzigen COVID-19-Pandemie deutlich zeigt, dass die EU nicht über die notwendigen Verfahren und Voraussetzungen verfügt, um auf eine derartig schwere Gesundheitskrise schnell und abgestimmt zu reagieren. Diese bittere Lektion lässt nur den Schluss zu, dass die Schaffung einer „EU-Gesundheitsunion“ unbedingt auf die EU-Agenda gesetzt werden muss.

Die COVID-19-Pandemie wird gravierende Auswirkungen auf die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele und der Ziele des Europäischen Grünen Deals haben. Aus diesem Grund fordert der EWSA nachdrücklich, dieser sich abzeichnenden Gefahr so rasch wie möglich entgegenzutreten und die Konjunkturbelebungsmaßnahmen der EU unverzüglich auf die Nachhaltigkeitsziele und den Grünen Deal auszurichten.

Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der europäischen Werte

Die Europäische Union fußt auf gemeinsamen Werten, die unter keinen Umständen verhandelbar sind: Wahrung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte dürfen auch dann nicht missachtet werden, wenn die EU und ihre Mitgliedstaaten mit einer Notlage und den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Sicherlich bedarf es einer raschen Reaktion auf die derzeitige Krise, die bestimmte außerordentliche und zeitlich begrenzte Maßnahmen rechtfertigt. Diese dürfen aber weder gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen noch die Demokratie, die Gewaltenteilung und die Grundrechte der Unionsbürgerinnen und -bürger in Frage stellen. Der EWSA dringt darauf, dass alle in diesem Zusammenhang ergriffenen politischen Maßnahmen voll und ganz im Einklang mit unseren gemeinsamen Werten stehen müssen, wie sie in Artikel 2 EUV verankert sind.

Diese Pandemie ist ein Testfall für die politische, finanzielle, soziale und wissenschaftliche Solidarität in der gesamten Europäischen Union. Wir müssen zusammenstehen, um gegen diese existenzielle Bedrohung vorzugehen, die uns alle betrifft und nicht an Grenzen haltmacht, und wir müssen dafür sorgen, dass wir über die notwendigen Ressourcen verfügen, um diese Pandemie zu überwinden und gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden.