von der Gruppe Vielfalt Europa

Alain Coheur

Finanz-, Wirtschafts-, Sozial-, Ernährungs-, Migrations-, Sicherheits- und Umweltkrise ... und schließlich ... die Gesundheitskrise. Durch die Vermarktung der Angst werden wir von einer Krise in die nächste gedrängt, und die Welt wird bewusst gelähmt durch die fehlende Bereitschaft, das Modell der wirtschaftlichen Entwicklung grundlegend in Frage zu stellen: Seit Jahren haben finanzielle Interessen Vorrang, denn öffentliche Dienstleistungen werden privatisiert und der Sozialschutz wird geschwächt. Vermögen wurde zugunsten einiger weniger beschlagnahmt, der Staat wurde abgebaut, und die Schwächsten wurden – mit dem Mantra der „Alternativlosigkeit“ – auf dem Altar der Sparpolitik geopfert. Unser Wirtschaftssystem hat zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen und fragmentierten Beziehungen zwischen den Menschen geführt, die einen rein konsumorientierten Lebensstil pflegen.

Heute werden diejenigen geopfert, die auch schon früher Opfer waren: Alle Berufe, die die Mächtigen für unwichtig hielten und die gering bzw. gar nicht wertgeschätzt wurden, stehen jetzt im Brennpunkt des Interesses. Von uns vergessene Berufe sind für den sozialen Zusammenhalt von wesentlicher Bedeutung; Berufe, die den jahrelangen Erschütterungen durch Rentabilität, Produktivität und wirtschaftliche Effizienz trotz der Proteste und trotz der Forderungen gegenüber einem enormen politischen Vakuum standgehalten haben. Zu den Arbeitnehmern, die an vorderster Front unserer Gesundheitssysteme stehen, zählen Pflegekräfte, Allgemeinmediziner, Lehrkräfte, Psychologen, Erzieher, Sozialarbeiter und all diejenigen, die Menschen helfen, die krank, ausgegrenzt, leidend, marginalisiert, pflegebedürftig, obdachlos, ohne Ausweispapiere usw. sind. Die Gesundheitskrise fördert all diese Exzesse und Ungleichheiten unserer Gesellschaft zutage.

Wir haben den Stellenwert des Gemeinwohls vergessen und die Bedeutung der gemeinsamen Werte vernachlässigt, die uns vereinen, zusammenbringen und in unseren menschlichen Beziehungen und unserer eigentlichen Existenz definieren. Unsere Gesellschaft entfernt sich immer weiter von diesen Werten, denn sie war bereits geschwächt, bewusst gespalten, desorientiert und auf verhängnisvolle Weise von einem neuen Nationalismus und Populismus überschattet.

Sowohl die Politik als auch die Wirtschaft stehen nunmehr vor der gewaltigen Aufgabe, einen Ausweg aus dieser Krise festzulegen. Hierfür gibt es nur zwei Lösungsmöglichkeiten: Entweder betrachten wir diese Krise als eine der Gefahren, die wir ad hoc bewältigen müssen, und unterstützen so unsere Gesellschaft bei einer besseren Reaktion auf solche Ereignisse; oder wir ändern die Perspektive der „Alternativlosigkeit“, sobald die Gesundheitskrise vorbei ist. Denkbar wäre dies durch die Umsetzung eines neuen Abkommens, eines neuen Sozial- und Umweltpaktes, der auf den Werten der Solidarität und Gleichheit basiert und sich unter anderem an den Erfolgen der Sozialwirtschaft orientiert. Dieser Pakt sollte mit entschlossenen Maßnahmen wie die Verlagerung unserer Produktion durch die Begünstigung kurzer, lokaler und sicherer Lieferketten sowie durch die Schaffung von Arbeitsplätzen, die jedem einzelnen von uns ein angemessenes Einkommen bieten, realisiert werden. Die öffentlichen Dienstleistungen müssen neu belebt, als wesentlich anerkannt und dazu befähigt werden, ihre Aufgaben unter der Ägide eines frei von den Finanzmärkten agierendes Sozial- und Rechtsstaates wahrzunehmen.

Wenn wir uns richtig entscheiden, dann haben wir nicht nur die Chance, „die Krise zur Beendigung aller Krisen“ zu erleben, sondern auch unser Verhältnis zu unserer Gesellschaft und ihrer Umwelt zu verändern.